Das Impfpflichtgesetz aus Sicht des Salzburger Historikers Dr. Franz Reitinger
Dr. Reitinger war der erste österreichische Postdoctorial Fellow der J.-Paul-Getty Foundation in Los Angeles.
Die ARD berichtete in der Tagesschau über die Verabschiedung des ersten Zwangsgesetzes der Zweiten Republik im österreichischen Parlament als wäre dies der normalste und selbstverständlichste Vorgang der Welt. Natürlich war von Zwang in dem Bericht keine Rede, ja nicht einmal von Gegenrede.
Es ist schon erstaunlich und sicherlich erklärungsbedürftig, wie mühelos die weiblich geführte Opposition zur männlich geführten Regierung überlaufen konnte. Noch vor wenigen Wochen hatte die Vorsitzende einer Partei, die in dieser schwierigen Zeit das fragwürdige ‚Glück‘ hat, von einer medizinischen Fachfrau geführt zu werden, noch gelechzt, wie schwierig die Frage der Impfpficht zu beantworten sei. Nun hat sie die Katze aus dem Sack gelassen. Erst jetzt wird einem so recht klar, was unter dem vereinnehmenden Motto „Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren“ zu verstehen ist: Ausgrenzung kraft Frontbildung. Vermutlich würde eine genaue Analyse der vorangegangenen Parlamentsreden zu dem Ergebnis kommen, dass inhaltliche Nebenbesetzungen des Themas nicht unerheblich zum Ausgang des Votums beigetragen haben. Manchen wird es ebenso sehr um die Schwächung des politischen Gegners oder die Stärkung der Frauenrechte gegangen sein. Andere werden ihren masochistischen Impulsen nachgegeben haben frei nach dem Motto: Ich habe mich aus mehr oder weniger kurzsichtigen, opportunistischen Motiven der Nadel unterworfen, die anderen haben kein besseres Los verdient. An der Frisur des neuen Gesundheitsministers aber kommen mit einem Mal dessen wahren Qualitäten zum Vorschein: die des Hardliners.
Ein höchst bizarres Element des neuen Gesetzes ist die damit verknüpfte Millionenlotterie, die als süßer Anreiz zur Peitsche des Gesetzeszwangs vorgestellt wurde. Was eigentlich offensichtlich sein sollte: Die Wendung „Zuckerbrot und Peitsche“ kommt aus dem Umfeld der Dressur. Der unernste, spielerische Zug dieser Lotterie spricht den Zwangsmaßnahmen des neuen Gesetzes Hohn. Nach außen wirkt sie buchstäblich wie eine ungewollte psychologische Fehlleistung der Regierung. Stellt sie diese doch gleich in mehrerer Hinsicht bloß. Begründet wurde das Lockermachen des vielen Spielgeldes damit, dass dieses die Kaufkraft der Geimpften stärken solle. Das Argument der Kaufkraft im Kontext des neuen Zwangsgesetzes verrät im Gegenzug das unschöne Kalkül, die Gruppe der Ungeimpften durch unverhältnismäßige Geldstrafen wirtschaftlich zu schwächen.
Die Lotterie kann als solche schon als Emblem für eine blinde, ungerechte Politik gelten. Ihre Bildlichkeit färbt zudem auf den eigentlichen Gegenstand des Gesetzes, die Impfung, ab, die deren Gegner wiederholt als eine Art „russisches Roulette charakterisiert haben. Selbst wenn man die Kugel aus der Trommel nimmt, bleibt der Gedanke, dass die Göttin des Glücks ihre Lose auf die Impfwilligen ungleich verteilt. Vielen lässt sie eine harte Haut wachsen, durch die kein Keim mehr dringt, und dennoch, beileibe nicht allen. Was aus der harten Haut in zehn oder zwanzig Jahren wird, wissen die Götter. Wenn sich die Regierung zu der Aussage versteigt, die Impfung wäre absolut sicher, ohne irgendwelche konkreten Garantien zu geben, dann wird die Lotterie zum Fanal für eine Politik, die im Unwahren verharrt.
Ich habe mir in den letzten Tagen das Vergnügen gegönnt, 186 Nationalrats- und 61 Bundestagsabgeordnete anzuschreiben, und fünf Antworten erhalten: drei Zusprüche und eine zwar höflich formulierte, aber darum nicht weniger dreiste Erwiderung von der Hoteliersfrau Alexandra Platzer. Bei der Durchsicht der Passbilder und Steckbriefe kam ich zu dem Schluss, dass sich darüber eine eigene Glosse verfassen ließe. Sicherlich gibt es da noch immer den souveränen Mandatar alter Schule, und auch einige imponierende Charaktere, schöne Seelen und glitzernde Elstern finden sich darunter. Das Gros beläuft sich allerdings auf zerquetschte, vierschrötige, rundum durchschnittliche, ja geradezu banale Gesichter. Speziell in der Sozialdemokratischen Partei wie auch unter weiblichen Abgeordneten ist das Bildungsniveau peinlich niedrig. Viele rutschen da von der Berufsschule, der Matura oder dem Master über eine der Kammern, über die öffentliche Verwaltung oder über die Gewerkschaft direkt ins Parlament. Ich dachte bislang, dies wäre ein spezifisches Phänomen der Nachkriegsgeneration gewesen, aber nein, von dem in den Medien oftmals beklagten formellen Bildungsüberhang in der heutigen Zeit keine Spur. Bei der Österreichischen Volkspartei fällt dagegen ein Überhang an stillen Mandataren auf, die nach außen hin, wie es scheint, keinerlei sichtbare Wirkung entfalten.
Ich habe mir ferner erlaubt, das Statement eines Parlamentariers durchzusehen, der sich gegen das Zwangsgesetz ausgesprochen hat. Dieses gewährt einen Einblick in die parlamentarische Arbeit, die von argumentativen Feineinstellungen und Tarierungsvorgängen bestimmt ist. Schon der erste Leserkommentar aber, der mir dazu auf LinkedIn angezeigt wurde, hat mich erstaunt, ja, geradezu entwaffnet: Wäre es nicht doch angebracht gewesen, nach außen hin mehr Kante zu zeigen? Das Kernstück dieses Kommentars einer jungen Frau bestand aus einem etwas jakobinisch daherkommenden Katalog aus Konditionalsätzen:
Wenn einer Minderheit Schuld daran gegeben wird, dass etwas nicht funktioniert, weil nicht alle mitmachen, nennt man das „Gruppenzwang“.
Wenn man Leuten etwas wegnimmt und nur unter Bedingungen wieder zurückgibt, nennt man das „Erpressung“.
Wenn man Menschen zu einer bestimmten Handlung zwingt, durch Drohungen, nennt man das „Nötigung“.
Wenn man die Wahrheit nur scheibchenweise serviert und manche Sachen verheimlicht, nennt man das „Täuschung“.
Wenn man Versprechen abgibt und sie immer wieder bricht, nennt man das „Lügen“.
Wenn man Menschen in unterschiedliche Kategorien einteilt und sie anschliessend unterschiedlich behandelt in Bezug auf ihre Freiheit und Selbstbestimmung, nennt man das „Diskriminierung“.
Ich kann mich in der Tat nicht erinnern, dass man einem Teil der Bevölkerung in der Zweiten Republik jemals so böse mitgespielt hätte wie nunmehr den Ungeimpften. Nach Diffamierung und Ausschluss vom öffentlichen Leben ist mit deren Demütigung und materiellen Schwächung nun die dritte Eskalationsstufe erreicht. All dies wäre vermeidbar gewesen: erstens, wenn die politische Klasse es unterlassen hätte, die Ungeimpften zur Schimäre eines gesellschaftlichen Feindbildes hochzustilisieren, und zweitens, wenn sich die Regierung nicht auf die Impfung als alleinig seligmachende Universallösung verstiegen hätte.
Vielleicht wäre vieles tatsächlich anders gekommen, wenn man das Regieren nicht den Fachleuten überlassen hätte. Es ist nachvollziehbar, dass Gremienvertreter dazu neigen, gesellschaftliche Gesamtperspektiven aus den Augen zu verlieren. Eine militärische Konfrontation mit Russland wäre unter den Konditionen einer 2G-Regel wohl kaum zu führen. Angesichts der Virulenz dieses und anderer Krisenherde könnte sich die gesamte Corona-Politik der europäischen Regierungen rasch als Luxusphänomen der sich in Grabenkämpfen verlierenden wesentlichen Gesellschaften entpuppen. Im Kleinen ließ sich dies zuletzt sehr schön an den artifiziellen Schülerschwänz-Demonstrationen beobachten, die förmlich von den Straßen gefegt wurden. Monströser noch als der Truppenaufmarsch selbst sind die russischen Forderungen, aus denen ersichtlich wird, wie tief der Machtanspruch Putin-Russlands in Unionsgebiet reicht. Russland kann diesen Anspruch nur deshalb erheben, weil sich die westlichen Staaten durch den massiven Umbau ihrer Gesellschaften in den letzten beiden Jahrzehnten selbst fragilisiert haben. Es ist alles andere denn ein Zufall, dass die russische ‚Diplomatie‘ ausgerechnet am Höhepunkt der Corona-Krise, da die europäischen Staaten mit sich selbst beschäftigt sind, einen Zahn zulegt.
Franz Reitinger, Salzburg